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13.2.2021: Interview mit Architekt Martin Zulauf (Benjamin Bitoun, Bernerzeitung)

«Das teure Umgraben des Hirschengrabens ist nicht unbedingt nötig»

Architekt Martin Zulauf ist erklärter Gegner der Baumassnahmen rund um den Berner Bahnhof und den Hirschengraben. Seine Gründe dafür erklärt er im Interview.

Architekt Martin Zulauf lehnt die Unterführung zum Hirschengraben entschieden ab.

Am 7. März stimmen die Stimmberechtigten der Stadt Bern über flankierende Massnahmen zum Ausbau des Bahnhofs ab. Es geht um einen Kredit von 112 Millionen Franken. Rund die Hälfte soll als Beiträge von Bund und Kanton in die Stadtkasse zurückfliessen.
Wenn es nach dem Willen von Martin Zulauf geht, wird es nicht so weit kommen. Als Mitglied eines Gegnerkomitees lehnt der 70-jährige Architekt die Vorlage entschieden ab. Dabei ist Zulauf eigentlich nicht als Gegner von städtischen Grossprojekten bekannt: Er vertritt die GFL von Stadtpräsident Alec von Graffenried in der Betriebskommission des städtischen Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik. Zudem amtet er als Präsident der Infrastrukturgenossenschaft Holliger, in der die sechs gemeinnützigen Wohnbauträger vertreten sind, die von der Stadt für den Bau der Siedlung auf dem Warmbächli-Areal berücksichtigt wurden.

Interview: Benjamin Bitoun, Bernerzeitung (-> Online-Quelle)

Benjamin Bitoun:
Martin Zulauf, nach dem Umbau des Bahnhofs werden ab 2027 deutlich mehr Personen in Bern ein- und aussteigen. Es heisst, bei einer Ablehnung der Vorlage drohe rund um den Bubenbergplatz ein Verkehrskollaps. Kann man am 7. März überhaupt mit gutem Gewissen Nein stimmen?

Martin Zulauf:
Absolut. Denn mit einem Nein an der Urne würde der Weg frei für eine bessere Planung. Gleichzeitig würde das bedeuten, dass die Unterführung zum Hirschengraben nicht gebaut wird. Damit fällt die zeitintensivste bauliche Massnahme weg, und wir haben bis 2027 genügend Zeitreserven, um eine bessere Lösung umzusetzen.

Die Stadt betont, dass die Vorlage alternativlos ist, weil die Massnahmen zur Eröffnung des neuen Bahnhofs umgesetzt sein müssen. Zudem könne das steigende Pendleraufkommen nur mithilfe der Unterführung bewältigt werden.

Das ist doppelt falsch. Denn erstens brauchen die Massnahmen, die wir als Alternative zur geplanten Unterführung vorschlagen, zur Umsetzung praktisch keine Zeit. Und zweitens kann mit ihnen dasselbe Personenwachstum bewältigt werden wie mit der Unterführung. Und zwar selbst wenn man mit denselben Wachstumsprognosen rechnet wie die SBB und der RBS, die aus unserer Sicht eigentlich viel zu hoch sind.

Was für Massnahmen schlagen Sie vor?

An den geplanten Verkehrsberuhigungsmassnahmen würden wir festhalten. Doch anstelle der Unterführung würden wir den Fussgängerstreifen an der Kreuzung Hirschengraben auf 25 Meter verbreitern, anstatt sie nur 16 Meter breit zu machen. Das reicht aus, damit die Personenkapazität der Unterführung wettgemacht werden kann. Und im Gegensatz zum Bau einer Unterführung benötigt die Umsetzung dieser Massnahmen kaum Zeit.

Bleibt aber das Problem mit den Verkehrsmassnahmen rund um den Bahnhof. Denn diese würden bei einem Nein am 7. März ebenfalls abgelehnt.

Das stimmt. Diese übrigen flankierenden Massnahmen braucht es unbedingt, um das Verkehrsaufkommen rund um den Bahnhof zu beruhigen. Aber dass die Stadt alles zusammen in eine Vorlage gepackt hat, ist nun wirklich nicht unser Fehler. Nach einem Nein am 7. März wird sie diese Massnahmen innert kurzer Frist dem Stimmvolk einfach nochmals vorlegen müssen. https://datawrapper.dwcdn.net/ZBBRe/2/

Wir kritisieren die Salamitaktik, mit der die Stadt ans Werk ging.

Sie kritisieren also nicht nur das Projekt, sondern auch das Vorgehen der Stadt beim Verfassen der Abstimmungsvorlage?

Wir kritisieren die Salamitaktik, mit der die Stadt ans Werk ging. Sie versucht, den Bau der Unterführung und das Umgraben des Hirschengrabens in einem Gesamtpaket mit den flankierenden Massnahmen durchzudrücken. Namentlich werden so auch die immensen Kosten kaschiert, die der Bau der Unterführung verschlingen würde. Falls dem Stimmvolk dann später doch noch eine Vorlage zur Velostation Hirschengraben vorgelegt werden könnte, würde diese dadurch günstiger erscheinen.

Die Velostation ist aber nicht mehr Bestandteil des Projekts, über das abgestimmt wird.

Das stimmt. Aber da das Argument mit der Notwendigkeit zur Bewältigung der Pendlerströme entfällt, würde die Unterführung ohne künftige Velostation Hirschengraben komplett überflüssig.

Warum?

Mit dem breiten Fussgängerstreifen ist die Unterführung schlicht nicht nötig zur Bewältigung des Pendleraufkommens. Sie wäre nur dann sinnvoll, wenn im Anschluss daran die Velostation gebaut würde. Dazu war geplant, dass man beim Widmannbrunnen über eine Rampe einfährt, parkiert und unterirdisch gleich einen Anschluss hat ans Netz der SBB und des RBS.

Dadurch, dass die Stadt die radikale Umgestaltung des Hirschengrabens in die Vorlage gepackt hat, löste sie eine Kettenreaktion aus Fehlern aus.
Martin Zulauf

Eine logische Lösung.

Ja – wenn da nicht der Hirschengraben wäre. Denn der müsste bei einer solchen Lösung dran glauben. Und das wird nicht passieren. Der Hirschengraben mitsamt seiner Archäologie ist Teil des Unesco-Welterbes und steht unter nationalem Schutz. In diesem Punkt ist die Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege ganz eindeutig.

Ist die Unterführung aus Ihrer Sicht der grösste Fehler unter den geplanten Massnahmen?

Es gibt keinen einzelnen Fehler. Dadurch, dass die Stadt die radikale Umgestaltung des Hirschengrabens in die Vorlage gepackt hat, löste sie eine Kettenreaktion aus Fehlern aus. Das Fällen der alten Kastanien, der nicht gleichwertige Ersatz durch Jungbäume in betonierten Töpfen: Die Umgestaltung des Hirschengrabens wird begründet mit der angeblichen Notwendigkeit, die Statue von Adrian von Bubenberg mitten in die Anlage zu versetzen. Die Versetzung wiederum wird wegen einer Unterführung nötig, die, wie gezeigt, gar nicht nötig ist. Nur in Seldwyla würde man für zig Millionen unnötige Unterführungen bauen.
Zudem ist diese Verkettung auch demokratiepolitisch unkorrekt.

Wie meinen Sie das?

Die Einheit der Materie besagt, dass man über unabhängige Projekte einzeln abstimmen sollte. Das ist hier nicht der Fall. Wer nur gegen das Umgraben des Hirschengrabens ist, die restlichen Verkehrsmassnahmen aber begrüsst, ist gezwungen, die gesamte Vorlage abzulehnen. Das ist unsauber, genau wie die Informationen im Abstimmungsbüchlein.

Was genau ist unsauber?

Die Informationen sind unvollständig. Anders als bei anderen Vorlagen werden den Stimmberechtigten etwa nur einige Visualisierungen, aber keine Pläne gezeigt. Weiter sind die Informationen durch Auslassungen immer haarscharf an der Grenze zur Unkorrektheit.

Konkret?

Es wird der Eindruck erweckt, dass auch die Umgestaltung des Hirschengrabens eine logische Folge des laufenden Bahnhofumbaus sei und deshalb an die Verkehrsmassnahmen gekoppelt sein muss. Das ist erwiesenermassen falsch. Ich hoffe, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das erkennen.

Das Projekt mitsamt der Pendlerprognosen und der Unterführung wurde bereits im Frühling 2019 in die Mitwirkung gegeben. Warum wurden die Gegnerkomitees erst jetzt richtig aktiv, wenige Wochen vor der Abstimmung?

Es gab von Anfang an eine artikulierte Opposition gegen das Projekt. In der Mitwirkung wurden Punkte wie die Unterführung und die Umgestaltung des Hirschengrabens mehrfach kritisiert. Aber die Kritiker wurden nicht gehört. Stattdessen schien die Stadtverwaltung dem Motto zu folgen: «Augen zu und durch.»

Trotzdem fassten die allermeisten Parteien eine Ja-Parole. Und im Mitwirkungsbericht der Stadt ist bei den meisten Punkten von «grossmehrheitlicher» Zustimmung die Rede.

Die meisten stimmten dem Projekt nur wenig begeistert zu, oft mit dem Zusatz «nur, wenn es denn unbedingt nötig ist». Doch wie wir aufzeigen, ist das teure Umgraben des Hirschengrabens eben nicht unbedingt nötig. Es wurde einfach nicht nach besseren Lösungen gesucht.

Nun ist Ihr Vorschlag, den Fussgängerstreifen zu verbreitern, nicht gerade revolutionär. Wenn die Lösung so einfach wäre, dann wäre die Stadt doch selbst darauf gekommen.

Das ist sie nicht, weil sie nach unserer Ansicht das gesamte Projekt von der Velostation aus gedacht hat. Hauptabsicht der Stadt war stets, die Station unter dem Hirschengraben zu bauen, und dazu braucht es die Unterführung. Nur so ist erklärbar, dass man einfachere, billigere Lösungen nicht weiter verfolgte.

Wie beurteilen Sie den geplanten Ausgang Bubenberg aus städtebaulicher Sicht?

Auch in dieser Hinsicht hat das Projekt Mängel. Denn aus städtebaulicher Sicht setzt ein richtiger Bahnhofsausgang voraus, dass man in einer Stadt ankommt – und zwar draussen, in einem klar gefassten städtischen Raum. Das wäre beim geplanten Ausgang Bubenberg nicht der Fall.

Aber gemäss den Plänen soll der neue Ausgang unter dem geplanten SBB-Neubau doch zu einem grossen, hohen Ankunftsort werden?

Das ist von der Idee her richtig, aber nicht zu Ende gedacht. Ich bin überzeugt: Würde man den Raum vom Bahnhof- über den Bubenbergplatz bis zum Hirschengraben zusammen betrachten, dann wären auch aus städtebaulicher Sicht bessere Lösungen möglich.

Zum Beispiel?

Man könnte schon an der Front des Postparcs aus dem Bahnhof ins Freie gelangen. Oder falls die SBB bereit wären, auf den geplanten Neubau am Bubenbergplatz 10/12 zu verzichten, könnte an dieser Ecke mit einem schönen Vorplatz eine städtebauliche Aufwertung erreicht werden. Mit der oberirdischen Lösung durch den Fussgängerstreifen am Hirschengraben geraten wir nicht in Zeitdruck und können es uns leisten, die anstehenden Veränderungen in einer Gesamtplanung vom Bahnhofplatz über den Bubenbergplatz bis zum Hirschengraben anzugehen. Dies ist ja mit dem Zeithorizont 2035 ohnehin geplant. Ein Nein zur aktuellen Vorlage macht den Weg frei für bessere Lösungen.